„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday,
liebe Jil, happy birthday to you!”, singen alle gemeinsam. Es ist
das Ende der Sommerferien, wie immer, wenn Jil Geburtstag hat,
aber ihre besten Freunde sind alle da: Tess, ihre beste Freundin
seit dem Kindergarten, Lea, das Nachbarsmädchen, zwei Freundinnen
aus der Klasse, Hugo, ihr Sandkastenfreund, und Luis.
Und nicht zu vergessen, Klecks, ihr brauner Mischlingshund mit
dem weißen Klecks auf dem Rücken. Klecks und Jil sind unzertrennlich,
er ist ihr treuester Gefährte. Jil lächelt in die Runde
ihrer Freunde und dreht verlegen eine ihrer blonden Locken um
den Zeigefinger. Auf dem bunt dekorierten Geburtstagstisch steht
eine Torte mit zwölf Kerzen. Als ihr Ständchen zu Ende ist, beugt
sich Jil über die Torte und bläst im ersten Versuch alle Kerzen aus.
„Was hast du eigentlich zum Geburtstag bekommen?“, fragt Tess.
„Ich habe bekommen, was ich mir schon immer gewünscht habe:
einen großen Bruder“, grinste Jil breit. „Das ist mein Bruder Luis“,
stellt Jil ihn vor und knufft Luis freundschaftlich in die Seite.
Luis wird schon bald 13!“ Sie zwinkert stolz mit ihren tiefblauen
Augen. „Das geht doch gar nicht“, Tess schaut ihre Freundin ver-
dutzt an, „und hallo Luis, schön dich kennenzulernen!“, nickt sie
ihm zu. „Doch jetzt mal im Ernst …“
Jil wedelt mit ihren Händen den letzten Qualm der ausgeblasenen
Kerzen vor ihrem Gesicht weg, legt ihre Hände dann langsam
auf die Armlehnen ihres Stuhls, schließt die Augen, atmet tief
ein und beginnt zu erzählen.
Es ist eine lange Geschichte. Bis vorgestern war ich mit Mama in
Los Angeles, weil sie beruflich für einige Wochen dorthin musste.
Ich habe eine Ferienfreizeit besucht: Sport, Spiel und Spaß und
sogar Übernachten am Strand war angesagt. Wir hatten gerade
Pause und ich entschied, mit Klecks die Gegend zu erkunden. Ein
heißer Sommertag, die Wellen platschten an unsere Füße und mir
wehte eine warme Brise ins Gesicht, als wir von Stein zu Stein
sprangen. Auf einmal wurde Klecks schneller und verschwand
immer tiefer im Felslabyrinth. Ich kam kaum hinterher. Erst als
er laut bellte, konnte ich meinen Hund wieder orten. „Klecks?“,
rief ich, „Was ist los?“ Doch er bellte immer weiter. Ich kletterte
hinterher, um zu gucken, was er gefunden hatte. Klecks stand
vor einem engen Felsspalt, etwa mannshoch. „Was ist das?“, fragte
ich mich. „Geht es da etwa hinein?“ Doch da war Klecks auch
schon auf der anderen Seite und ich folgte, ohne weiter darüber
nachzudenken. Wir kamen in eine Höhle so groß wie ein Zimmer.
Nur vereinzelt durchbrachen Sonnenstrahlen, die durch kleine
Gesteinsöffnungen fielen, in zarten, glitzernden Streifen die Dunkelheit
vor mir. Ich war verwundert und erschrocken zugleich,
als ich einen Jungen hinten in der Höhle entdeckte, der offensichtlich
dort wohnte. Meine Augen schweiften von ihm zu einer
Schlafstelle in der Ecke und weiter zu einem Gaskocher und Konservendosen.
Klecks stürmte auf den Jungen zu und schnüffelte
seltsam vertraut an ihm. Der Junge stand regungslos da in seinen
zerrissenen Jeans. Sein schmutziges T-Shirt ließ nur erahnen, dass
es einmal hellblau gewesen war. Seine Haare hingen in feuchten
Strähnen ungeordnet in das sonnengebräunte Gesicht. Ich stand
ihm mit meinem weißen Leinenkleid und dem rosa Strohhut gegenüber
wie aus einer anderen Welt. Der Junge blickte nervös zu
mir herüber. Ich konnte Unsicherheit in seinen dunklen, großen
Augen lesen.
„Wer bist du?“, fragte ich leise. „Ich bin Luis“, antwortete der
Junge vorsichtig. „Was machst du hier, ganz alleine in der Höhle?
Wohnst du etwa hier?“, bohrte ich weiter. „Warum sollte ich dir
das erzählen? Ich kenn dich doch gar nicht“, erwiderte Luis kurz
und trocken. „Ich bin Jil aus Deutschland und verbringe meine
Sommerferien hier in L. A. Meine Mutter hat beruflich in der Stadt
zu tun“, erzählte ich. „Aha, aus Deutschland und da sprichst du
fließend meine Sprache?“, unterbrach Luis mich etwas schnippisch.
„Mein Vater ist Engländer. Meine Kindergartenzeit habe
ich in der Nähe von London verbracht. Letztes Jahr haben meine
Eltern sich getrennt und jetzt lebe ich mit meiner Mama in Hamburg.“
Luis schien langsam Vertrauen zu mir zu fassen und sagte:
„Ich kann dir meine Geschichte nur erzählen, wenn du mir versprichst,
alles für dich zu behalten und mit niemandem darüber
zu reden, auch nicht mit deiner Mutter.“ – „Indianerehrenwort“,
versprach ich ihm und Luis erzählte: „Ich bin ein Waisenkind.
Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen,
als ich noch klein war und andere Verwandte habe ich nicht.“
„Das tut mir leid“, warf ich leise ein. Luis hatte Tränen in den Augen
und wischte mit seinem Handrücken übers Gesicht. Die Tränen
mischten sich mit dem Schmutz und bildeten dunkle Spuren
auf seinen Wangen. Ich nahm Luis‘ Hand. Gemeinsam setzten wir
uns auf einen Stein und Klecks legte sich zu uns. Es war, als würden
wir uns schon lange kennen. Luis erzählte weiter: „Ich lebte
im Waisenhaus. Schrecklich war es da. Kalt, lieblos, immer Strafen.
Alpträume ließen mich zuletzt nicht mehr schlafen. Ich bin
abgehauen. Nur kurz hat man nach mir gesucht. So ein Waisenjunge
mehr oder weniger im Heim, wen interessiert das schon …“
Ich legte meinen Kopf an seine Schulter, um die Leere zu füllen,
die er mir beschrieben hatte.
Luis fing in Gedanken verloren an, mit einer Münze zu spielen.
„Ist die von deinen Eltern?“, fragte ich. Wieder schaute er erschrocken.
„Nein, die habe ich gefunden.“ – „Gefunden? So eine
große Goldmünze? Einfach so?“ Ich rückte ein Stück von ihm weg
und schaute ihn ernst an. „Ich ermittele“, unterbrach er den unangenehmen
Moment. „Ich glaube, ich bin Schmugglern auf der
Spur. Schon häufiger habe ich ein Schiff gesehen, das hier an der
Küste immer wieder ankert. Männer kommen mit Beibooten an
den Strand. Sie haben verschiedene Holzkisten geladen und brin-
gen die Fracht an Land. Letzte Woche ist dabei diese Münze aus
einer der Kisten gefallen und ich habe sie aufgesammelt. Ich habe
die Männer dabei beobachtet, wie sie die Kisten in einen Transporter
verluden und davonfuhren. Einige Zeit später kamen sie
zurück. Parkten den kleinen LKW am Straßenrand. Gingen wieder
zu ihren Booten und ruderten zurück zum Schiff. Ich hörte einen
sagen: ‚Das hat sich gelohnt. Noch eine Tour, heute in einer Woche.
Dann haben wir alle Bestellungen vorrätig und können die
Abnehmer treffen.‘ Verdächtig, findest du nicht? Ich will herausfinden,
was da vor sich geht. Seitdem habe ich jeden Tag einen
Strich an meine Wand gemalt. Ich habe ja keinen Kalender hier.
Heute Morgen den siebten. Also ist es diese Nacht soweit“, endete
er. „Ich helfe dir“, beschloss ich. „Meine Mama ist bei der Kripo.“ –
„Oh nein“, wetterte Luis los, „auch das noch. Ich erzähl meine Geschichte
quasi direkt den Bullen. Das glaub ich ja nicht.“ „So ein
Quatsch“, stoppte ich sein Schimpfen. „Ich bin ein Kind wie du
und nicht die Polizei. Und der Job meiner Mutter kann im Ernstfall
nur hilfreich sein. Jetzt bleib mal auf dem Teppich. Ich bin
heute Nacht dabei.“ Er willigte ein: „Na gut, danke. Vielleicht ist
es besser, nicht allein zu sein. Essen habe ich genug und auf der
Matratze kann man auch zu zweit schlafen. Aber was sagst du
deiner Mutter?“ „Ich bin eigentlich gerade in einem Feriencamp
und wir übernachten heute am Strand. Meine Mutter hat Dienst.
Das Camp ist allerdings so schlecht organisiert, dass die mich sicher
nicht vermissen. Oh Gott, wenn Mama das wüsste … Aber
sie erwartet mich erst morgen Mittag und bis dahin sollte ich zu
Hause sein. Hoffentlich.“
Wir machten uns Dosensuppe. Normalerweise esse ich keine
Dosensuppe. Aber heute schmeckte sie mir seltsamerweise. Wir
quatschten noch lange und schauten die Sterne an. Luis wollte
mehr vom Job meiner Mutter erfahren. Sein Vater war wohl bei
der CIA. Schon wieder fühlten wir uns irgendwie verbunden.
Ich erzählte, dass meine Mutter Kunstdieben auf der Spur ist.
Die deutschen Maler Gerhard Richter und Sigmar Polke gehören
zu den weltweit gefragtesten Künstlern, die noch leben. Immer
wieder sind in letzter Zeit Werke dieser Künstler verschwunden.
Genauso plötzlich tauchten die Bilder aber auch wieder auf. Die
Spur konnte nach China zurückverfolgt werden. Es gibt viele junge
chinesische Künstler, die perfekt ausgebildet sind, solche Werke
täuschend echt zu fälschen. Weiter führte die Spur vom Hafen
in Taipeh bis nach Los Angeles … Wir redeten, bis uns die Augen
zufielen und wir nur noch den Wellen lauschten. Ich schlief ein.
Mitten in der Nacht weckte mich Luis. Er zeigte wortlos
durch zwei große Felsen hinaus aufs Meer. Man sah die Lichter
eines Schiffes, das ruhig vor der Küste lag. Langsam sahen wir
kleine Boote wie dunkle Nussschalen auf den seichten Wellen
schaukeln. Sie kamen näher und näher zum Strand. Man hörte
Manöverkommandos und bald strandeten zwei Boote und drei
Männer stiegen aus. Mit Mühe hievten sie Holzkisten von den
Booten, große und kleine, schwerere und leichte, wie es wirkte.
„Das sind sie!“, flüsterte Luis. Die Männer schleppten ihre Fracht
über den Strand Richtung Küstenstraße. „Komm, wir gehen ihnen
hinterher.“ Luis zog an meiner Hand. „Klecks“, zischte ich und er
folgte uns wie ein Schatten. Zu dritt schlichen wir vorsichtig an
den Felsen entlang, die uns Deckung gaben. Es war stockdunkel.
Selbst der Mond spendete kaum Licht und stand nur als schmale
Sichel am Himmel. Der am Tag noch heiße Sand war abgekühlt.
Die Brise war stärker geworden und wirbelte meinen Hut vom
Kopf. Vor Schreck strauchelte ich. „Mist“, entfuhr es mir. Warum
hatte ich diesen doofen Hut überhaupt aufgesetzt?
Wir erreichten die Mauer, die den Strand von der Straße
trennte und fanden eine brüchige Stelle, durch die wir sehen
konnten, wie die Männer den Kleinlaster beluden. Dann rauchten
die drei vor dem Auto eine Zigarette, während die Ladeklappen
noch offen standen. Ich überlegte nicht lange, stieg rasch
über die kleine Mauer und sprang fast geräuschlos auf die Ladefläche.
Klecks hatte mich schon überholt. Luis konnte weder rufen
noch schimpfen, ohne uns zu verraten. Es blieb ihm keine
Wahl. Er folgte uns. Wir hörten, wie die Männer ihre Raucherpause
beendeten. Shit, was nun? Wir mussten uns irgendwie verstecken,
sonst würden sie uns erwischen. Ich fühlte Panik in mir
aufsteigen. Da sah ich eine größere, leere Kiste in der Ecke, der
Deckel war aufgeklappt. Ich zog an Luis‘ T-Shirt und kroch in die
Kiste. Luis hinterher. Klecks gab ich ein Handzeichen den Transporter
zu verlassen und schupste ihn leicht Richtung Ausgang.
Zum Glück verstanden wir uns blind. Die erste Tür des Laderaums
fiel ins Schloss. Klecks stürmte los und schlüpfte durch die verbleibende
Öffnung.
„Was war das? Wer ist da?“, brummte der Dicke und wollte
auf die Ladefläche. Mein Herz pochte bis zum Hals. Ich hatte das
Gefühl husten zu müssen und versuchte meine eigene Spucke zu
schlucken, um keinen Ton von mir zu geben. Ein Kollege hielt den
Mann offensichtlich zurück. „Nichts als ein Straßenköter. Die gibt
es hier am Strand zuhauf“, raunte er und knallte die zweite Türe
zu. Ich atmete erleichtert auf. Luis erklärte mich für verrückt. „Du
möchtest doch auch unbedingt herausfinden, was die vorhaben.
Das können wir nur aufklären, wenn wir mitkommen!“, flüsterte
ich. „Du hast zu viele Krimis gesehen“, zischte Luis. „Nein, ich bin
nur die Tochter meiner Mutter.“
Die Kiste ließ uns zum Glück genug Luft zum Atmen und
durch einen Spalt, der offensichtlich sogar der Belüftung dienen
sollte, konnten wir einiges sehen. Der LKW fuhr los. Die Fahrt
dauerte nur etwa fünf Minuten. Die Männer stiegen aus und entluden
die Fracht. Bis schließlich nur noch wir verpackt in der
Ecke standen. „Die Kiste auch?“, brummte der Dicke. „Alles“, war
die Antwort. Der Dicke versuchte sich stöhnend an unserem Versteck.
„Das Ding ist so schwer, das bekomm ich da nicht runter.“
„Die Dumpfbacke soll dir helfen. Schleppen kann er ja. Habt das
Ding ja auch drauf bekommen.“ Wir hörten ein hämisches Lachen
und ein Husten, dann bewegte sich unser Versteck. Ich stützte
mich an Luis und presste meine Füße fest gegen die Seitenwand,
schwitzend vor Angst. „Die Kiste war aber nicht auf dem Schiff“,
murmelte der Dicke wieder. „Lass mal nachsehen, was das ist.“
Wir hielten den Atem an. Versuchten so leise wie möglich zu sein.
Mein Herz pochte zum Zerspringen. „Schlepp endlich den Scheiß
raus und frag nicht. Für dumme Fragen gibt’s hier keine Asche
und nur wegen der Asche bin ich hier“, meckerte der Typ, den sie
Dumpfbacke nannten.
„Puh, das war knapp!“, flüsterte ich. Wir wurden in ein großes,
altes Haus getragen. „Was ist das für ein Haus?“, fragte ich
Luis mit Gesten. „Das ist ein altes Hotel. Es ist vor vielen Jahren
wegen einiger kurioser Ereignisse pleitegegangen. Einmal ist sogar
eine Schauspielerin, die hier Urlaub machte, einfach spurlos
verschwunden und bis heute nicht mehr aufgetaucht, erzählt
man sich. Keiner wollte mehr hier wohnen oder Urlaub machen.
Anwohner sagen, sie würden hier nachts Lichter und dunkle Ge-
stalten sehen. Seitdem wird es von jedem das Geisterhotel genannt.
Aber wer die dunklen Gestalten sind, die nachts hier einund
ausgehen, wissen wir jetzt und den Rest werden wir herausfinden“,
flüsterte Luis fast tonlos zurück. Er wurde kühner und
mutiger, während sich bei mir nun Angst und Grusel mischten.
Wir schienen die Rollen zu tauschen.
Der Dicke und Dumpfbacke trugen unsere Kiste eine Treppe
hinauf und stellten uns unsanft in einem großen Salon ab.
Aua. Durch den Spalt in der Kiste konnte man das heruntergekommene
Hotel sehen. Die Tapeten an den Wänden lösten sich
ab. Morsche Holzbalken knarzten und Türen hingen schief in
den Angeln. Schwere, verstaubte Vorhänge zierten hohe Fenster.
Ein Sofa aus Samt und ein Himmelbett konnte ich außerdem erkennen
und ich konnte den Glanz längst vergangener Jahre erahnen.
Doch was war das? Der Mann, der hier der Anführer zu sein
schien, hob Teile des Bodens hoch. Dann wurden wir angehoben
und etwas tiefer wieder abgestellt. „Ein doppelter Boden!“, entwischte
es mir vor Schreck. Die anderen Kisten waren bereits vor
uns hier und die Männer schlossen nun die letzte Öffnung der
Holzdielen über uns. Man hörte, wie sie Möbel rückten und den
Raum verließen. „Oh verdammt, wie sollen wir hier je wieder herauskommen?“
Ich wurde total panisch, atmete viel zu schnell,
mein Kopf begann zu dröhnen. „Wir müssen zuerst aus der Kiste,
dann sehen wir weiter“, beruhigte mich Luis. Aber die Kiste ging
nicht auf, der Zwischenraum war zu niedrig. „Wir lehnen uns
jetzt gleichzeitig an eine Seitenwand, bis die Kiste kippt und der
Deckel zur Seite fällt. Dann können wir raus“, befahl Luis. Sein
Plan ging auf. Überall sahen wir Bilder gestapelt, Statuen, Vasen
und Skulpturen. Eine Hehlerbande.
„Hier sind wir gefangen! Sicher versteckt vor der Außenwelt,
wie die Schätze hier“, jammerte ich hoffnungslos. „Vielleicht
nicht!“, antwortete Luis und zeigte auf eine Klappe an der Wand.
„Das ist ein alter Wäscheschacht, durch den die Zimmermädchen
früher die Wäsche direkt in den Waschkeller werfen konnten.
Schaffst du es dort hinunterzuklettern?“ Es war nicht wirklich
eine Frage von Luis. Er robbte los. Ich folgte ihm. „Streck Arme
und Beine aus und versuche dich mit Händen und Füßen so gut
es geht an den Schachtwänden abzustützen. Dann kleine Bewegungen
nach unten. Es dürfte nur ein Stockwerk sein“, Luis kletterte
geübt und fast mühelos voran. Ich vorsichtig hinterher. Ich
konnte mich kaum halten. Rutschte immer wieder ab. Das blanke
Metall quietschte unter meinen feuchten Händen und Füßen. Als
ich nur noch wenige Meter über dem Boden war, konnte ich mich
nicht mehr halten. Mein linker Fuß rutschte weg, dann meine
Hände. Ich stürzte die letzten Meter den Wäscheschacht hinunter
mit einem panischen Schrei. „Jil?“, rief Luis erschrocken. Doch ich
landete weich in der Wäsche von damals, die bis dahin niemand
weggeräumt hatte. Glück gehabt! „Alles gut!“, beruhigte ich Luis
und mich. Es roch muffig und die Luft war feucht. Versehentlich
rannte ich gegen einen alten Wäscheständer.
Von draußen hörten wir Stimmen. „Ich habe dir doch gesagt,
da ist jemand!“, wetterte der Dicke wieder. „Verriegelt die
Türen. Ich drehe das Wasser auf“, kommandierte der Anführer.
Plötzlich lief Wasser aus den Versorgungsrohren an den Wänden,
die früher wahrscheinlich die Maschinen betrieben hatten.
„Wir sitzen in der Patsche. Wir werden hier ertrinken“, flüsterte
ich panisch. Auch Luis bekam Angst. Das konnte ich sehen. Die
schweren Eisentüren verriegelten den Raum nahezu dicht. Der
geflieste Boden und die gekachelten Wände machten ihn jetzt zu
einem Schwimmbecken. Durch das Fenster blickte man lediglich
in einen schmalen Lichtschacht. Der zudem mit einem Gitter geschützt
war. Auch hier gab es kein Entkommen. „Klettern wir auf
die alten Bügelautomaten dort, das bringt uns mindestens eine
Stunde“, hörte ich Luis wie von ganz weit weg zu mir sprechen.
Er stieg zuerst hinauf, dann ich.
Wir hörten die Männer draußen wieder reden. „Wo ist die
Ware?“, fragte eine neue Männerstimme. „Später. Öffnen Sie zuerst
den Koffer und lassen Sie mich die Scheinchen sehen“, entgegnete
der Anführer. Wahrscheinlich findet gleich eine Übergabe
statt, dachte ich. Während sich meine Gedanken entfernten,
fing ich an, ein altes Lied zu pfeifen, das meine Oma mir immer
vorgesungen hatte: „Einmal um die ganze Welt und die Taschen
voller Geld, davon hab ich schon als kleines Kind geträumt …“
Wenn das Ende naht, zieht die Vergangenheit noch einmal an
einem vorbei, hatte ich einmal gehört.
„Was ist das?“, fragte draußen die neue Stimme. „Ach, nur
Dumpfbacke, ein total verpeilter Kollege“, entgegnete der Dicke.
Egal, ich pfiff weiter, während das Wasser stieg. Und es stieg
schneller, als wir zuerst geglaubt hatten. Mir kullerte eine Träne
aus dem Auge. „Das ist alles meine Schuld, hätte ich dich nicht
dazu überredet, in den LKW zu steigen, wäre das gar nicht passiert.“
Ich schniefte und pfiff jetzt noch lauter, um nicht über
unser Ertrinken nachdenken zu müssen. „Das stimmt doch gar
nicht, ich habe dir doch überhaupt erst von den Schmugglern
erzählt …“ Luis wurde von Hundegebell unterbrochen. „Klecks?
Bist du das?“, ich schaute mich um. Blickte erwartungsvoll zum
Lichtschacht, sah aber nichts. Wir hörten Geräusche an der Tür.
Oh nein, sind die das wieder? Bitte, tut Klecks nichts … Meine Gedanken
fuhren Achterbahn. Ich schloss die Augen und hörte, wie
die Tür sich öffnete. Da bellte es wieder. Ich blinzelte zaghaft. Sah
wie das Wasser aus dem Raum schoss und Klecks nach draußen
spülte. Dann erkannte ich meine Mutter. „Mama!“ Ich sprang von
der Maschine und watete ihr durch das Wasser entgegen. Wir
stürzten uns in die Arme. Meine Mutter bat mich mit ernstem
Blick, hier im Waschraum leise zu warten. Ich wusste, sie würde
mich nicht in Gefahr bringen, trotzdem wäre ich in diesem Moment
tausendmal lieber bei ihr geblieben.
Mama verließ den Raum. Wenig später hörte ich Autos anfahren.
Schaute durch die Tür nach draußen. Streifenwagen fuhren
vor, bewaffnete Polizisten sprangen aus den Fahrzeugen und
umstellten das Gebäude blitzschnell. Es gab kein Entkommen
mehr für die Bande. Sie wurden geschnappt und die Hehlerware
sichergestellt. Darunter auch die Bilder der deutschen Künstler,
die meine Mutter gesucht hatte. Unglaublich, wir hatten Mamas
Fall gelöst. Aber statt mich zu loben, schimpfte sie jetzt, wie gefährlich
das war, was wir getan hatten. Doch Mama konnte nicht
böse sein. Sie war viel zu glücklich, uns gerettet zu haben, und
drückte Luis und mich ganz fest an sich. „Jetzt können wir ja zurück
nach Hause“, sagte sie gerührt, mit Tränen in den Augen.
„Nur, wenn Luis mitkommt und bei uns bleibt“, entgegnete ich
sehr bestimmt.
„Und wie man unschwer sieht, Jil hat sich einmal wieder durchgesetzt“,
triumphierte Tess, ihre beste Freundin, die Jil nur zu
gut kannte. „Du erlebst die gefährlichsten und verrücktesten Geschichten.
Wenn du groß bist, musst du ein Buch schreiben. Wer
weiß, vielleicht heiratest du sogar einmal deinen großen Bruder“,
zwinkerte sie. „Eins ist klar, wir alle würden zu eurer Hochzeit
kommen.“ Die Freunde lachten und Tess griff nach einem Muffin,
den sie sich genüsslich in den Mund stopfte. „Happy birthday!“
sagte sie. „Happy End!“, sagte Jils Mutter, „die Papiere sind
da. Luis kann bei uns bleiben und ich darf ihn als meinen Sohn
adoptieren.“

Münchner Kinder-Krimipreis 2020, Teresa Marie S.

Verwendet für folgendes Produkt des  w ö r t e r k i o s k: dreiecksschachtel